Vorwort

1979 erschien erstmals der Band „Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Strukturen und Entwicklungen im Überblick“. Dieser Band war als Handbuch konzipiert und sollte umfassend und systematisch einen Überblick über das gesamte Bildungswesen in Deutschland geben und dabei über seine institutionelle Struktur, langfristige Entwicklungslinien und aktuelle Problemlagen informieren. Die Herausgeberschaft und Verantwortung der Inhalte übernahm eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin und verband dies mit dem Anspruch einer unabhängigen und aktuelle Forschungsergebnisse berücksichtigenden Bildungsberichterstattung. Durch vollständig bearbeitete Neuauflagen des Bandes entstand eine Tradition der Bildungsberichte des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. Dabei wurde 1994 eine Neuausgabe veröffentlicht, in der aufgrund der Vereinigung der beiden vormals bestehenden deutschen Staaten auch die Entwicklungen im Bildungssystem der DDR integriert wurden. 2003 erschien eine weitere Neuauflage vor dem Hintergrund der damals anhaltenden Wirtschaftsschwäche und der zunehmend spürbar werdenden Folgen des demografischen Wandels. Die letzte Neuauflage des Max-Planck-Berichtes wurde schließlich 2008 vorgelegt, motiviert durch eine Vielzahl von Modernisierungsbestrebungen im deutschen Bildungssystem.

Mittlerweile haben sich weite Teile der Bildungsforschung in Deutschland in der Leibniz-Gemeinschaft organisiert. So entstand 2012 der Leibniz-Forschungsverbund Bildungspotenziale – auch mittlerweile bekannt als Leibniz Education Research Network (LERN). Diesem Forschungsverbund gehören 16 Institute der Leibniz-Gemeinschaft an. Ergänzt wird der Verbund durch sieben weitere universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen in Deutschland und Luxemburg. In den Mitgliedsinstitutionen arbeiten Forscherinnen und Forscher aus der Erziehungswissenschaft, den Fachdidaktiken, der Linguistik, den Medien- und Kulturwissenschaften, den Neurowissenschaften, der Ökonomie, der Politikwissenschaft, der Psychologie, der Soziologie sowie der Informationswissenschaft und der Informatik. Aufgabe des Verbundes ist es, die Fachkenntnisse der einzelnen Institute und ihrer Forschungsfelder im Hinblick auf Bildungsfragen zusammenzuführen und auszubauen.

Ein Hauptziel besteht darin, Potenziale von und für Bildung zu identifizieren und sie für eine bessere Nutzung zur Bewältigung von individuellen und gesellschaftlichen Herausforderungen im Kontext von Bildung zu erschließen. Als die Frage an die Sprechergruppe von LERN herangetragen wurde, ob der Leibniz-Forschungsverbund die Tradition des Berichtes des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung weiterführen wolle, haben wir ohne Zögern zugesagt und uns an eine Neukonzeption gemacht. Das Produkt halten Sie nun in den Händen. Auch wenn sich der Kreis der Verantwortlichen, der Titel des Bandes („Das Bildungswesen in Deutschland – Bestand und Potenziale“) und der Verlag (utb/Klinkhardt) geändert haben, haben wir uns darum bemüht, die Tradition der unabhängigen forschungsbasierten Berichterstattung weiterzuführen und weiterzuentwickeln. Dabei haben wir grundlegende Entwicklungen und Strukturprobleme im deutschen Bildungswesen aufgenommen und beschreiben für die verschiedenen Bildungsetappen, welche generellen Trends im deutschen Bildungssystem zu welchen strukturellen und inhaltlichen Reformen geführt haben. Zu diesen Trends zählen:

Demografische Herausforderungen:

  • Sinkende Geburtenzahlen bei gleichzeitig ansteigenden prozentualen Anteilen der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen nicht-deutscher Herkunft.
  • Vielfältige Initiativen zur Reduzierung von Ungleichheit, hier vor allem zur Beseitigung von sozialen, migrationsbedingten Disparitäten und Geschlechterdisparitäten im Bildungsbereich.

Folgen der digitalen Durchdringung der Lebens-, Arbeits- und Bildungswelten:

  • Die Rolle digitaler Medien in informellen und formalen Bildungsangeboten.
  • Sicherung einer informationstechnologischen Grundbildung als Aufgabe aller Fächer in der Schule.
  • Fragen der Sicherung nachhaltiger digitaler Bildungsinfrastrukturen in allen Bildungskontexten.

Stärkung der frühen Bildung:

  • Erhebliche Bemühungen, Bildungsangebote im vorschulischen Bereich – auch bei den unter Dreijährigen – auszubauen, um auf diese Weise mehr Chancengleichheit zum Zeitpunkt der Einschulung herzustellen, aber auch, um dem gesetzlich verankerten Betreuungsanspruch von Eltern nachzukommen.
  • Damit verbunden der Ausbau der Sprachförderung im Elementar- und Primarbereich.
  • Vermehrt auch frühe Angebote im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich.

Veränderungen im allgemeinbildenden Schulsystem:

  • Reduzierung verzögerter Schulkarrieren durch eine Vorverlegung des Einschulungsalters, eine flexible Eingangsphase zu Beginn der Grundschule und Veränderungen in der Versetzungspraxis von Schülerinnen und Schülern.
  • Das Streben nach höherer Bildung verbunden mit der Expansion des Gymnasiums und der Verlängerung der Schulzeit.
  • Transformation des differenzierten Schulsystems in der Sekundarstufe I: Von einem viergliedrigen System mit Hauptschule, Realschule, Gymnasium und Integrierter Gesamtschule hin zu einem Zwei-Säulen-Modell mit dem Gymnasium und einem nichtgymnasialen Zweig, der für Teile der Schülerinnen und Schüler auch zur Hochschulzugangsberechtigung führt.
  • Reformen in der gymnasialen Oberstufe, die eine höhere Verbindlichkeit des Unterrichts in den Kernfächern (Deutsch, Mathematik und eine Fremdsprache) sichern.
  • Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre, gefolgt von starken Bestrebungen wieder zu neun Jahren zurückzukehren.
  • Der Ausbau von Ganztagesangeboten im Schulsystem, zum einen, um benachteiligten Schülerinnen und Schülern zusätzliche Förderangebote zu machen, zum anderen, um mehr Betreuungsangebote für berufstätige Eltern zu bieten.
  • Gesteigerte Anstrengungen, um die Inklusion von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf voranzutreiben.

Weiterentwicklungen im Hochschulbereich, konkret:

  • Fortlaufender Anstieg der Studierendenzahlen an deutschen Hochschulen und damit insgesamt eine Schwächung des dualen beruflichen Ausbildungssystems.
  • Förderung des Wettbewerbs zwischen Hochschulen (Exzellenzinitiative der Deutschen Forschungsgemeinschaft).
  • Umstellung auf Bachelor-/Masterstudiengänge als Folge der EU-Beschlüsse von Bologna.
  • Stärkung dualer Studiengänge, in denen neben hochschulischen Lehrangeboten gleichberechtigt praktische Anteile in Unternehmen stehen.
  • Öffnung der Hochschulen für Studierende ohne traditionelle Hochschulreife (Abitur).

Reformen in der Lehramtsausbildung, konkret:

  • Umstellung von Staatsexamensstudiengängen hin zu Bachelor‑/Masterstudiengängen.
  • Etablierung von Schools of Education in Universitäten, in denen eigene, für die Lehramtsausbildung zuständige universitäre Strukturen geschaffen werden.
  • Erhöhung der Praxisanteile.
  • Bereitstellung von erheblichen finanziellen Mitteln für eine Verbesserung der universitären Lehre im Bereich der Lehramtsausbildung (Beispiel: Qualitätsoffensive Lehrerbildung der Bundesregierung).
  • Der Trend weg von der schulformbezogenen zur schulstufenbezogenen Lehramtsausbildung, bei der Studiengänge zum Grundschullehramt, zum Lehramt in der Sekundarstufe I und zum Lehramt in der Sekundarstufe II angeboten werden.
  • Erhöhung des Anteils von Studienmodulen in den Bereichen Inklusion, Deutsch als Zweitsprache und Sonderpädagogik.
  • Zunehmende Forschungsbemühungen zur Wirksamkeit der Lehramtsausbildung.

Modernisierung des beruflichen Aus- und Weiterbildungssystems:

  • Anpassung an die zunehmende Automatisierung von Fertigungsprozessen.
  • Von dualen Ausbildungsberufen zu dualen Studiengängen.

Fortschreitende Institutionalisierung der Erwachsenen- und Weiterbildung:

  • Steigende Beteiligungsquoten und anhaltende soziale Ungleichheiten.
  • Flächendeckende Einführung von Systemen des Qualitätsmanagements in Organisationen dieses vierten Bildungsbereichs.
  • Zunehmendes Interesse an den monetären und nicht-monetären Erträgen des lebenslangen Lernens und an der Zertifizierung non-formalen und informellen Lernens.
  • Wachsende Aufmerksamkeit für die Beschäftigungsbedingungen, die Qualifikationen und die Kompetenzen des Personals.

Bildungsmonitoring – Feststellung der Leistungsfähigkeit des Bildungssystems:

  • Große nationale und internationale Schulleistungsstudien im Grundschulbereich und am Ende der Sekundarstufe I.
  • Flächendeckende Vergleichsarbeiten in der Grundschule und in der Sekundarstufe I.
  • Internationale Studien zur Feststellung von Basiskompetenzen (in den Bereichen Verkehrssprache, Mathematik und Computer-bezogene Kompetenzen).
  • Einführung von Schulinspektionen/externen Evaluationen von Schulen.
  • Bildungsberichterstattung auf nationaler Ebene und in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland.

Der Band gliedert sich entlang dieser Trends in sieben Teilbereiche. Der Teilbereich I beschäftigt sich mit Bildungsstrukturen und Bildungsorten. Teilbereich II ist den Aufgaben und Herausforderungen im Bildungswesen gewidmet. Es folgen vier Teilbereiche, die den Fokus auf Bildungsetappen entlang der Bildungsbiografie im Lebenslauf legen: III. Frühe Bildung: Kindertageseinrichtungen und Grundschule; IV. Der Sekundarschulbereich; V. Hochschulbildung; VI. Erwachsenen- und Weiterbildung, Bildung im höheren und hohen Alter. Schließlich beschäftigt sich der Teilbereich VII mit Bildungsmedien und digitalen Informationsumwelten, einem Megathema der kommenden Jahre.

In jedem dieser Teilbereiche werden zentrale Themen, relevante Hintergründe und aktuelle Entwicklungen dargestellt, ohne dies mit dem Anspruch auf Vollständigkeit zu verbinden. Über die Akzente und Schwerpunkte informiert eine kurze Einführung. Für den Band konnten wir eine Vielzahl der führenden Expertinnen und Experten im Feld gewinnen. Ganz gemäß den Zielen des Leibniz-Forschungsverbundes haben wir sie ermutigt, in den einzelnen Kapiteln nicht nur den aktuellen wissenschaftlich fundierten Sachstand darzustellen, sondern auch Einschätzungen zu wagen, welche Potenziale sie in den jeweiligen Themen und Feldern sehen.

Der fertig gestellte Band hat einen stolzen Umfang. Auch wenn er nicht als Lehrbuch für alle Studien- und Ausbildungsgänge im Bildungsbereich konzipiert ist, so haben wir doch darauf geachtet, dass in den einzelnen Kapiteln jeweils eine Darstellungsform gewählt wurde, die es erlaubt, die Texte auch als Grundlage in entsprechenden Lehrveranstaltungen zu verwenden. Die Beiträge bieten vielfältige Informationsquellen nicht nur für Studierende; der Band ist auch ein nützliches Nachschlagewerk für Expertinnen und Experten in Bildungspraxis, Bildungsverwaltung, Bildungspolitik und Bildungsforschung.

Bis zur Fertigstellung eines solchen Werkes müssen viele Zwischenschritte durchlaufen werden, bei denen es mitunter zu zeitlichen Verzögerungen kommt. So wurden einige Beiträge bereits im Jahr 2016 abgeschlossen, wenige andere erst im Jahr 2018.

Wir danken an dieser Stelle Herrn Sven Zedlitz sowie Frau Sabine Eyert-Kobler und Frau Zahide Marquardt-Gültepe aus der Koordinationsstelle des LERN-Verbundes. Unser Dank geht zudem an die Leibniz-Gemeinschaft, die den Forschungsverbund mit Mitteln in der Förderlinie Strategische Vernetzung des Leibniz-Wettbewerbs unterstützt.

Wir wünschen Ihnen bei der Lektüre viele anregende und inspirierende Einsichten.

Olaf Köller, Marcus Hasselhorn, Friedrich W. Hesse, Kai Maaz, Josef Schrader, Heike Solga, Katharina Spieß, Karin Zimmer

Frankfurt, 22. Oktober 2019