von Olaf Köller
Während die Grundschule explizit das Ziel hat, Schülerinnen und Schüler unterschiedlichster Herkunft und Leistungsstände im Klassenverband gemeinsam zu unterrichten, sieht der Übertritt in die Sekundarstufe I eine institutionelle Trennung der Schülerschaft in unterschiedliche Schulformen vor. Auf Basis der am Ende der Grundschule erreichten Leistungen werden in vielen Bundesländern Empfehlungen für einen gymnasialen oder einen nichtgymnasialen Bildungsgang gegeben, in anderen Ländern finden Beratungsgespräche ohne explizite Empfehlung statt. In der Regel befolgen Eltern die Empfehlungen bzw. Ratschläge der Lehrkräfte, die Konsequenz ist eine externe Leistungsgruppierung. Mit Beginn der Sekundarstufe I lernen die leistungsstarken Schülerinnen und Schüler in der großen Mehrzahl am Gymnasium, die leistungsschwächeren deutlich häufiger an nichtgymnasialen Schulen, die je nach Bundesland unterschiedlich bezeichnet werden und wie das Gymnasium Wege zu unterschiedlichen Abschlüssen bereitstellen. Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf werden zunehmend inklusiv im Regelschulsystem unterrichtet, ihre Beschulung in Förderzentren geht dementsprechend zurück.
Im Rahmen dieses Kapitels soll die Entwicklung der Sekundarstufe I in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg dargestellt werden. Es soll deutlich werden, wie das anfangs stark gegliederte System sich zunehmend zu einem Zwei-Säulen-Modell entwickelt hat, in dem eine gymnasiale und eine nichtgymnasiale Säule Bildungswege zu unterschiedlichen Schulabschlüssen bereitstellen. Neben Entwicklungstrends sollen kognitive Erträge der schulischen Bildung in der Sekundarstufe I beschrieben werden. Bezugspunkte hierfür bieten die Befunde aus dem OECD Programme for International Student Assessment (PISA; vgl. u. a. Reiss et al. 2016) und den Ländervergleichen des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB; zuletzt Stanat et al. 2016). Letztere erlauben, die Leistungen am Ende der Sekundarstufe I vor dem Hintergrund länderübergreifend geltender Bildungsstandards zu bewerten. Die großen Studien erlauben auch die Feststellung migrationsbedingter, sozialer und geschlechtsbezogener Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und in den erreichten Kompetenzen, worauf ebenfalls eingegangen wird.
Im Wesentlichen lassen sich die Aussagen dieses Kapitels wie folgt zusammenfassen: (1) In Deutschland hat ein Modernisierungsprozess dahingehend eingesetzt, dass höhere Bildungsabschlüsse angestrebt werden. War es Anfang der 1950er Jahre noch der Hauptschulabschluss, der vor allem mit dem Übertritt in die Sekundarstufe I angestrebt wurde, so ist heute der Mittlere Schulabschluss das Mindestmaß schulischer Bildung in der Sekundarstufe I. (2) Dieser Modernisierungsprozess schlägt sich aktuell darin nieder, dass sich Schulstrukturmodelle durchsetzen, in denen zwei Schulformen des allgemeinbildenden Schulsystems alle Abschlüsse (Hauptschulabschluss, Mittleren Schulabschluss, Abitur) anbieten. (3) Der Modernisierungsprozess hat nicht dazu geführt, dass soziale oder migrationsbedingte Ungleichheiten in der Sekundarstufe I verschwunden sind. (4) Auch zeigen sich trotz zunehmender Ähnlichkeit der Schulsysteme in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland erhebliche Leistungsdifferenzen zwischen den Ländern, d. h. Bildungschancen in Deutschland sind abhängig von dem Land, in dem Schülerinnen und Schüler aufwachsen.
Der vollständige Beitrag im Buch gliedert sich wie folgt:
14.1 Frühe Differenzierung in der Sekundarstufe I und Bildungsexpansion
14.2 Zunehmende Zweigliedrigkeit und Inklusion in der Sekundarstufe I
14.3 Schulische Leistungen am Ende der Sekundarstufe I
- 14.3.1 Befunde aus PISA
- 14.3.2 Nationale Schulleistungsvergleiche auf der Basis von Bildungsstandards
- 14.3.3 Schulformunterschiede in den Leistungen
14.4 Disparitäten in der Bildungsbeteiligung und in Leistungen
- 14.4.1 Soziale Disparitäten
- 14.4.2 Migrationsbedingte Disparitäten
- 14.4.3 Geschlechtsdifferenzen
14.5 Fazit und Ausblick
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