Kapitel 16: Das berufliche Bildungssystem in Deutschland

von Paula Protsch und Heike Solga

Das deutsche Berufsbildungssystem bietet vielen Schulabgängerinnen und Schulabgängern die Möglichkeit, mit einem anerkannten Berufsabschluss auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Berufsabschlüsse können durch eine betriebliche Ausbildung im dualen System oder im sogenannten Schulberufssystem erworben werden. Innerhalb beider Teilsysteme sind die erlernten Berufe allerdings mit unterschiedlichen Erwerbs- und Einkommenschancen verbunden. Zudem sind Berufswechsel nach der Erstausbildung ohne Abstiegsrisiken nur eingeschränkt möglich. Daher ist es nicht nur wichtig, dass eine Ausbildung absolviert wird, sondern auch, welcher Beruf erlernt wird.

Die individuellen Ausbildungsoptionen steigen mit dem Schulabschlussniveau. Betriebliche Auswahlverfahren sind in der Regel hoch standardisiert und legen einen großen Schwerpunkt auf die schulische Vorbildung. Zudem ist die Teilnahme an Ausbildungen im Schulberufssystem meist durch formale Zugangsvoraussetzungen beschränkt. Bildungspotenziale, die während der Schulzeit verborgen blieben, können so nur in Ausnahmefällen entdeckt werden. Für Jugendliche mit maximal (erweitertem) Hauptschulabschluss ist es oft schwer, den Übergang in eine voll qualifizierende Ausbildung zu realisieren. Wenn dies dennoch gelingt, beschränken sich ihre Möglichkeiten größtenteils auf Ausbildungsberufe im unteren Segment des dualen Systems, die schlechtere Erwerbsperspektiven bieten. Hingegen werden Ausbildungsberufe im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialwesen im Schulberufssystem sowie Ausbildungsberufe im oberen Segment des dualen Systems überwiegend von Jugendlichen mit Mittlerem Schulabschluss oder Hochschulreife erlernt. Diese Berufe bieten vergleichsweise gute Einkommens- und Beschäftigungsaussichten.

Mit Blick auf die Erschließung von Bildungspotenzialen ist positiv hervorzuheben, dass die meisten Ausbildungsbetriebe in die duale Ausbildung investieren, um Fachkräfte zu gewinnen. Für viele Jugendliche gelingt der Einstieg ins Berufsleben damit sehr gut – auch ohne einen tertiären Bildungsabschluss, der in vielen anderen Ländern dafür notwendig ist. Allerdings ist durch die Bildungsexpansion und den Wandel hin zu einer wissensbasierten Gesellschaft die berufliche Integration von Jugendlichen mit niedrigen Schulabschlüssen und damit die Entdeckung und Weiterentwicklung ihrer Bildungspotenziale zu einer großen gesellschaftlichen Herausforderung geworden.

Schließlich ist hervorzuheben, dass durch die voranschreitende Bildungsexpansion im Sekundar- und Hochschulbereich die Vorrangstellung des dualen Systems für die berufliche Erstausbildung aktuell infrage gestellt wird. Immer mehr Jugendliche erwerben eine Hochschulzugangsberechtigung und nehmen anschließend ein Studium auf. Gleichzeitig hat sich seit Anfang der 1990er Jahre eine konstante Versorgungslücke beim betrieblichen Ausbildungsplatzangebot entwickelt, die vor allem Jugendliche mit geringen Schulleistungen betrifft. Einer der häufig genannten Gründe dafür ist deren mangelnde „Ausbildungsreife“. Die berufsvorbereitenden Maßnahmen des Übergangssystems sollen hier Abhilfe schaffen und die „Ausbildungsreife“ dieser Jugendlichen fördern. Bisher ist jedoch wenig darüber bekannt, ob mit diesen Maßnahmen tatsächlich Kompetenz- oder Zertifikatsgewinne erreicht werden. Als erfolgreich haben sich vielmehr Modellversuche erwiesen, die einen intensiven Kontakt zwischen Jugendlichen und Ausbildungsbetrieben herstellen und damit einen direkten Übergang in eine vollwertige Ausbildung unterstützen. Öffentlich finanzierte außerbetriebliche Ausbildungsplätze sind ein weiterer Lösungsansatz.

Der vollständige Beitrag im Buch gliedert sich wie folgt:

16.1  Einführung

16.2  Institutionelle Strukturen des Berufsbildungssystems

16.3  Zugang zu Ausbildungsplätzen und Berufen

  • 16.3.1 Zugangschancen und Marktverhältnisse
  • 16.3.2 Segmentation der voll qualifizierenden Sektoren des Berufsbildungssystems
  • 16.3.3 Betriebliche Auswahlprozesse

16.4  Entwicklungen seit den 1970er Jahren

  • 16.4.1 Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen
  • 16.4.2 Die Bildungsexpansion und Berufsbildung
  • 16.4.3 Transformation der Berufsbildung in Ostdeutschland

16.5  Potenziale und Herausforderungen des Berufsbildungssystems

  • 16.5.1 Kompetenzerwerb in der Berufsausbildung
  • 16.5.2 Übergänge von der Schule in den Arbeitsmarkt
  • 16.5.3 Berufliche Integration von Jugendlichen mit niedrigen Schulleistungen
  • 16.5.4 Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung


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